Niccolò Raselli, ehmaliger Bundesrichter: Das Versicherungsspione-Gesetz ist unverhältnismässig
Aus juristischer Sicht, aber auch gesellschaftlicher Sicht, weist das Sozialdetektive-Gesetz in folgenden Punkten eklatante Mängel auf:
Überwachung als schwerer Grundrechtseingriff
Die verdeckte Überwachung von Personen stellt einen schweren Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens dar (Art. 13 Abs. 1 Bundesverfassung). Darum bedarf der Eingriff nicht nur einer gesetzlichen Grundlage. Er muss auch verhältnismässig sein (Art. 36 Abs. 3 Bundesverfassung).
Enorme Tragweite der Überwachung
Die vom Parlament beschlossenen Überwachungsmöglichkeiten betreffen die AHV (Hilflosenentschädigung), die IV, die Unfall- Arbeitslosen- und die Krankenversicherung. Damit dürften praktisch sämtliche Einwohner und Einwohnerinnen der Schweiz unter den Anwendungsbereich der Überwachungsregeln fallen. Das neue Gesetz ist von enormer Tragweite.
Unverhältnismässige Überwachungsmittel
Als technische Überwachungsmittel erlaubt das Gesetz nicht nur Video- und Tonaufnahmen (ohne dabei Teleobjektive und Richtmikrophone auszuschliessen), sondern auch den „Einsatz von technischen Instrumenten zur Standortbestimmung.“ Bei Fahrzeugen sind das so genannte GPS-Tracker. Der vage Begriff „Geräte zur Standortbestimmung“ schliesst selbst den Einsatz von Drohnen nicht aus. Sogar den kantonalen Sozialdirektoren (SODK) gehen Tonaufnahmen und GPS-Tracker zu weit.
Unverhältnismässige Eingriffe ins Privatleben
Das Gesetz erlaubt die Überwachung einer Person nicht nur, wenn diese sich an einem allgemein zugänglichen Ort befindet, sondern auch, wenn sie sich an einem Ort befindet, „der von einem allgemein zugänglichen Ort aus frei einsehbar ist.“ Erlaubt ist damit die Überwachung privater Gärten, von Balkonen und Wohnungen, mithin auch von Wohn- und Schlafzimmern (mittels Teleobjektiven, Richtmikrophonen). Man denke an neue Überbauungen, wo ganze Fronten aus Fenstern bestehen. Demgegenüber dürfen Verdächtige im Rahmen einer Strafverfolgung nur „an allgemein zugänglichen Orten“ observiert werden (Art. 282 Strafprozessordnung). Private Räume, auch wenn von einem öffentlichen Ort aus einsehbar, sind für die Strafermittler tabu. Das heisst, dass die Organe der Sozialversicherungen stärker in die Privatsphäre von Verdächtigen eingreifen dürfen als jene der Strafverfolgung. Das Gesetz ermächtigt die Sozialversicherungen zu Grundrechtseingriffen, welche selbst bei der Verfolgung von Verbrechen in dieser Form nicht zulässig sind.
Voraussetzung der Überwachung – ein Gummiparagraph
Voraussetzung der Überwachung ist, dass aufgrund „konkreter Anhaltspunkte“ anzunehmen ist, dass die versicherte Person unrechtmässig Leistungen bezieht oder zu erhalten versucht“. Was heisst „konkrete Anhaltspunkte“, was heisst „Leistungen zu erhalten versucht“? Ohnehin dürften Verzeigungen meist rachegesteuert sein. Angesichts der Schwere des Eingriffs sollten Überwachungen auf schwerwiegende Fälle eingeschränkt werden. Ferner müsste ein klar begründeter Verdacht bestehen.
Im Zweifel dürfte wohl überwacht werden
Während der Einsatz von GPS-Trackern immerhin einer richterlichen Genehmigung bedarf, wie das auch in der Strafprozessordnung und im Nachrichtendienstgesetz vorgesehen ist, können Versicherungen Observationen selber veranlassen. Es genügt die Anordnung der Observation durch eine „Person mit Direktionsfunktion“. Da Observationen von einer Verfahrenspartei, mithin einer nicht unabhängigen Instanz, angeordnet werden, ist realistischerweise davon auszugehen, dass diese im Zweifel Überwachungen anordnet.
Aufweichung des staatlichen Gewaltmonopols
Erlaubt ist der Einsatz von Privatdetektiven. Das heisst, dass Überwachungen von Privatpersonen durchgeführt werden können. Damit wird das staatliche Gewaltmonopol aufgeweicht. Daran ändert die Absicht des Bundesrates, Versicherungsdetektive einer Bewilligungspflicht zu unterstellen, nichts.
Dauer der Überwachung
Die Überwachung darf an 30 Tagen innerhalb von 6 Monaten stattfinden, welche Frist um 6 Monate verlängert werden kann, wenn „hinreichende Gründe“ dafür bestehen. Die Überwachung kann demzufolge während des Zeitraumes eines ganzen Jahres stattfinden. Abgesehen davon, dass „hinreichende Gründe“ eine Leerformel ist, dürften solche immer gegeben sein, wenn erst einmal eine Überwachung angeordnet worden ist.
Illegale Überwachungen dürfen verwertet werden
Das Gesetz regelt die Frage nicht, ob unrechtmässig erhobene Beweismittel verwertet werden dürfen. Nach der laschen Praxis des Bundesgerichtes hängt deren Verwertbarkeit von Fall zu Fall von einer Abwägung zwischen den involvierten privaten und öffentlichen Interessen ab. Das kommt einer Aufmunterung zu illegalen Beweiserhebungen gleich – nach dem Motto „nützt’s nichts, schadet’s nichts“ -, ziehen doch illegale Überwachungen weder Sanktionen noch ein Verwertungsverbot nach sich. Im Strafverfahren sind illegal erlangte Beweise nur ausnahmsweise verwertbar, wenn es „zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich“ ist (Art. 141 Abs. 2 Strafprozessordnung).
Die SVP-Polemik gegen so genannte „Sozialschmarotzer“ trägt ihre giftigen Früchte
Warum sollen Menschen, die des Missbrauchs von Sozialversicherungsleistungen verdächtigt werden, härter angefasst als Verdächtigte eines Vergehens oder Verbrechens, ganz zu schweigen von der Steuerhinterziehung Verdächtigten? Es ist unübersehbar, dass die jahrelange Verleumdung der Sozialleistungsbezügerinnen und -bezüger als „Sozialschmarotzer“ und „Scheininvalide“ ihre giftigen Früchte trägt. Wie anders ist es zu erklären, dass nur Bezügerinnen und Bezüger von Leistungen der Sozialversicherungen aufs Korn genommen werden, nicht aber Bezügerinnen und Bezüger von Subventionen, geschweige denn hinterziehende Steuerschuldnerinnen und Steuerschuldner. Ob jemand Steuern hinterzieht oder unrechtmässig Sozialversicherungsleistungen bezieht, macht für das geschädigte Gemeinwesen keinen Unterschied. Bezügerinnen und Bezüger von Sozialversicherungsleistungen werden einem Generalverdacht unterstellt. Anders ist die unverhältnismässige Überwachungsgesetzgebung nicht zu erklären.
Alain Berset, Bundesrat: Ausschnitte aus dem Interview in den Schaffhauser Nachrichten:
Die Gegner argumentieren, dass Sozialversicherungsdetektive mit dem Gesetz mehr Kompetenzen erhalten als die Polizei.
Berset: Das stimmt nicht. Die Polizei hat viel weiter gehende Möglichkeiten, wie Wanzen oder Bild- und Tonaufnahmen im Innern eines Wohnhauses.
Die Strafprozessordnung erlaubt Überwachungen nur an allgemein zugänglichen Orten. Das Gesetz über Sozialversiche- rungsdetektive erlaubt Überwachungen aber auch an Orten, die von einem allgemein zugänglichen Ort aus frei einsehbar sind. Das ist eine Diskrepanz.
Berset: Die Rechtsprechung des Bundesgerichtes ist klar. Die frei einsehbaren Balkone dürfen observiert werden, das Schlaf- zimmer nicht. Mir konnte bis heute niemand schlüssig erklären, weshalb das Bundesgericht seine Rechtsprechung ändern sollte.
Das Parlament hätte einfach die Formulierung aus der Strafprozessordnung übernehmen können. Es hat schludrig gearbeitet.
Berset: Der Bundesrat wollte die Überwa- chung in der Revision des allgemeinen Teils des Sozialversicherungsrechts regeln. Er hatte eine Vorlage in die Vernehmlas- sung geschickt. Das Parlament wollte die Arbeit jedoch selbst machen. Trotz dieses aussergewöhnlichen Weges stimmt das Ergebnis.
Werden wir konkret: Dürfen Detektive von einem Park aus Versicherte im Schlafzimmer observieren?
Berset: Nein.
Dürfen Versicherungsdetektive für Bild- und Tonaufnahmen Drohnen einsetzen?
Berset: Nein.
Dürfen Detektive Richtmikrofone einsetzen?
Berset: Nein.
Das heisst, die Gegner operieren mit falschen Argumenten?
Berset: Ich habe ein gewisses Verständnis für die Gegner: Der erste Gesetzestext war problematisch. Doch die Gegner sind dort stehen geblieben. Sie anerkennen nicht, dass das Parlament das Gesetz im Laufe der Beratungen stark verbessert hat. Zudem dürfen wir eines nicht vergessen: Es ist wichtig, dass wir Missbräuche der Sozialversicherungen aufdecken, sonst wird die Glaubwürdigkeit des Systems untergra- ben. Observationen werden sehr selten ein- gesetzt, nur wenn der Sachverhalt nicht mit anderen Mitteln oder nur mit unverhältnismässigem Aufwand geklärt werden kann. Bei der IV in etwa 220 Fällen pro Jahr, bei der Suva sind es ein Dutzend.
Sie reden nur von der IV und der Suva. Tatsächlich gelten die neuen Regeln für sämtliche Sozialversicherungen, etwa auch für die Arbeitslosenversicherung, die obligatorische Krankenversicherung oder die Ergänzungsleistungen. Jeder könnte von Observationen betroffen sein.
Berset: Observationen braucht es praktisch nur bei der IV und der Unfallversicherung. Bei einer Krankheit etwa stellt ein Arzt fest, ob jemand krank ist oder nicht, und ordnet eine Therapie an. Es braucht keine Überwachung, um festzustellen, ob die Person tatsächlich mit Fiebermesser zu Hause im Bett liegt. Observationen sind praktisch nur in Rentenfällen sinnvoll, also insbesondere bei IV und Unfallversicherung.
Für Sie ist das Gesetz eindeutig und klar. Wieso sehen das mehrere Rechtsprofessoren anders?
Berset: Ich nehme zur Kenntnis, dass es unter Rechtsprofessoren unterschiedliche Auffassungen gibt. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtes und die ausdrückli- chen Absichten des Parlaments sind ent- scheidend. Die Rechtslage ist klar.
Zum Lager der Gegner gehört auch Ihre Partei, die SP. Sie stört sich daran, dass Steuerbetrüger mit Samthandschuhen angefasst und Versicherte gleichzeitig kriminalisiert würden. Können Sie diese Argumentation nachvollziehen?
Berset: Nein. Ich gehe davon aus, dass in der Schweiz gegen mehr als 230 Steuerbetrüger pro Jahr hart vorgegangen wird. Natürlich könnte man den Kampf gegen sie noch verbessern, denn Steuerbetrug ist ein Problem. Nur ist das kein Grund, um gegen Betrugsbekämpfung im Bereich der Sozialversicherungen zu sein. Meine Partei hat nicht zum ersten Mal eine andere Meinung als ich. Doch das gehört zum Job.