Skript – Es gilt das gesprochene Wort
„Das schweizerische Asylrecht ist nicht bloss Tradition, sondern staatspolitische Maxime; es ist Ausdruck der schweizerischen Auffassung von Freiheit und Unabhängigkeit. […] Im Hinblick auf die Pflicht, eine der schweizerischen Tradition entsprechende Asylpraxis einzuhalten, ist eine freie, weitherzige Aufnahme von Flüchtlingen in Aussicht zu nehmen“ – das schreibt der niemand geringeres als der Schweizerische Bundesrat 1957 in einer Grundsatzerklärung zur Asylpolitik. Was für ein Kontrast zu heute. Was für ein Kontrast zu den Bildern, die uns seit Monaten aus Idomeni in Griechenland, aus Calais, Frankreich, aus Lampedusa, Italien, aus Ungarn, aus Serbien, aus Österreich erreichen. Es mutet geradezu grotesk an, wie das Europa der französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – wie das Europa der Aufklärung, wie unser Europa scheitert. Scheitert nicht einer technologischen Herausforderung, nicht an einem ambitiösen Projekt, nicht an einem politischen Gegner. Nein, wir scheitern an der lächerlichen Aufgabe Menschen, die auf der Flucht sind, vorübergehend Schutz zu bieten. Und selbst, wenn es hunderttausende wären. Über 60 Millionen Menschen sind zurzeit weltweit auf der Flucht, drei Viertel von ihnen leben in Entwicklungsländern, nur die Spitze des Eisberges schafft es überhaupt nach Europa. Der Libanon, 4.4 Millionen Einwohner, hat über 1.2 Millionen Flüchtlinge vor allem aus Syrien aufgenommen. 25% der Bevölkerung sind Flüchtlinge. Ein Land mit einem Bruttoinlandprodukt, das 16 Mal kleiner ist als jenes der Schweiz. Über zwei Millionen sind in der Türkei. In Griechenland sind im Oktober 2015 in einem Monat 210’000 Flüchtlinge gelandet, im Januar 16 70’000, im Februar 60’000, im März 30’000[1]. 22’000 Menschen sind seit der Jahrhundertwende im Mittelmeer kläglich ersoffen, man kann es nicht anders sagen. Das ist die gesamte Bevölkerung von Neuhausen am Rheinfall, Thayngen, Hallau, Beringen und Ramsen zusammen. Und was tun die reichen Staaten? Österreich will die Grenzen schliessen, Frankreich ist schon mit Gewalt gegen so genannt illegale Camps vorgegangen. Linke, sozialdemokratische Regierungen. Von Ungarn, Serbien, Polen oder der Slowakei wollen wir gar nicht sprechen. Und wir müssen alle paar Wochen in den Zeitungen die bange Frage lesen, ob die Schweiz unter der Last der Flüchtlinge nicht in Bälde zusammenbrechen könnte? Etwas mehr als 1% der Menschen in diesem Land sind Flüchtlinge (wenn man alle im Prozess und bereits hier lebenden zusammenzählt). Wir machen unter lautem Getöse Notfallpläne für den Fall, dass es ein Bruchteil dieser Menschen unsere versteckte Alpenoase doch noch erreichen könnte. Genossinnen und Genossen, die Diskussion bei uns wäre lächerlich, sowas von lächerlich, wenn es nicht so zynisch und heuchlerisch wäre.
Was bitte, hat der Westen denn gedacht, dass passiert, wenn wir Afghanistan bombardieren, wenn wir den Irak bombardieren, wenn wir Libyen bombardieren, wenn wir Syrien bombardieren? Ich meine, versteht mich nicht falsch. Es gibt ganz gute Gründe, gegen autokratische Herrscher vorzugehen, manchmal auch mit Gewalt. Aber wenn man mit der Faust in einen Pudding haut, wundert man sich ja auch nicht, wenn der im ganzen Zimmer rumfliegt. Wo bitte schön, dachten sich denn die Damen und Herren, dass die Menschen hingehen, wenn man ihre Städte bombardiert? Und als wir nach der Finanzkrise 2008 die Budgets des Welternährungsprogrammes kürzten, also die UN 2014 einem Drittel der syrischen Flüchtlinge die Lebensmittelrationen streichen mussten, als die bürgerliche Mehrheit letztes Jahr 100 Millionen Entwicklungsgelder kürzte, weil wir das Geld den Grossbauern und Boni-Banken hinterherwerfen mussten, haben wir da im Ernst geglaubt, die würden brav dort warten? Und als wir 20 Jahre lange die Hungerkatastrophe in Subsaharaafrika ignorierten – eine Milliarde hungernder Menschen weltweit – ja, dachten wir da im Ernst, die würden nach 500 Jahren Kolonialismus freundlicherweise gleich vor Ort verhungern, damit sie uns nicht beim Apéro stören?
Und jetzt haben wir in Europa Angst. Angst vor den muslimischen Fundamentalisten, die sich unter den Flüchtlinge verstecken könnten. Und gleichzeitig bezieht die halbe Welt Öl aus den Quellen des Islamischen Staates. Gleichzeitig bewilligt die neue Mehrheit im Bundesrat wieder Waffenlieferungen an den grössten Financier von Terror und Fundamentalismus nach Saudi-Arabien, ein Regime das systematisch alles mit Füssen tritt was mit Pressefreiheit, Demokratie oder Menschenrechten zu tun hat, das allen regionalen Despoten mit Waffen zu Hilfe eilt, wenn die Menschen sich wehren. Weil es offenbar ganz wichtig ist, dass wenn die Menschen schon von ihren Diktatoren abgeschlachtet werden, dann bitte wenigsten mit Schweizer Waffen. Das ist doch eine verdammt bigotte Politik Genossinnen und Genossen und das muss endlich ein Ende haben!
Offenbar sind wir verunsichert genug, dass wir im vollen Ernst eine Woche lang darüber diskutieren können, ob 14 jährigen, die ihrer Lehrerin die Hand nicht mehr geben wollen eventuelle ernsthafte Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellen könnten. Und in den Momenten kommen sie dann jeweils aus ihren Löchern: Die Retter des Abendlandes. Und dann finden sie plötzlich raus, dass der Handschlag offenbar zur Urschweizerischen Kultur gehört. Und plötzlich sind ihnen die Symbole, ganz, ganz wichtig. Und plötzlich ist ihnen die Verteidigung der Frauenrechte gegen die Islamisten ganz, ganz wichtig. Und darauf dürfen nicht hereinfallen, Genossinnen und Genossen. Es wäre brandgefährlich, sich der verlogenen Empörung der nationalistischen Rechte anzuschliessen. Wenn symbolische Handlungen für den gegenseitigen Respekt plötzlich so wichtig sind, warum sind dann die gleichen für die Aufhebung der Anti-Rassismusstrafnorm? Auch ein Symbol. Und wenn Frauenrechte jetzt plötzlich so wichtig Sinn, warum war dann genaue diese Partei dagegen, als wir häusliche Gewalt zum Offizialdelikt erklärten, warum haben sie letzte Woche im Parlament die Gleichstellungspolitik praktisch aus dem Aufgabenkatalog des Parlaments gestrichen? Und wenn ihnen so viel am liberalen Staat liegt, warum starten sie dann eine Initiative nach der anderen gegen seine Grundprinzipien, gegen die Gewaltentrennung, gegen den Rechtsstaat? Genossinnen und Genossen, die extreme Rechte kann in keinem Fall ein echter Verbündeter sein in all’ diesen Kämpfen. Versteht mich bitte auch hier nicht falsch. Selbstverständlich gilt es, gegen alle bekloppten religiösen Fundamentalismus vorzugehen. Aber machen wir doch den Test: Wer von euch hat Sympathien für die radikalen Islamisten, der oder die soll doch bitte kurz die Hand heben? Eben. Und wer kennt jemanden, der oder die SVP wählt?
Das ist hierzulande die zentrale Bedrohung für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat. Nicht die paar durchgeknallten Islamisten, die kriegen wir in den Griff, schon gar nicht die Flüchtlinge, nein. Nochmals: Die extreme Rechte unter der Führung der SVP ist die grösste Bedrohung für Freiheit und Wohlstand seit dem Fall der Berliner Mauer und das müssen wir endlich wieder begreifen und deutlich sagen. Den Antidemokraten dürfen wir keinen Fussbreit lassen. Aus aktuellem Anlass sage ich: Jedes Kleinkind weiss, was man macht, wenn es unten rauskommt und Braun ist: Spülen und zwar kräftig und dann den Raum so schnell wie möglich verlassen, weil es stinkt!
Genau jene, die sich jetzt über den Untergang von Werten und Moral in unserer Gesellschaft beklagen, sind die Architekten dieses Unterganges. Die Strategie der extremen Rechten besteht darin, Schritt für Schritt die Rechte der Menschen abzubauen. Die Initiative zur Kündigung der Europäischen Menschenrechtscharta ist nur die Spitze des Eisberges. Viel offensiver noch wird der Abbau unserer wirtschaftlichen und sozialen Teilhaberechte durch eine gigantische Umverteilung von unten nach oben betrieben. Und die Zahlen sind gewaltig und es ist extrem wichtig, dass wir uns immer wieder bewusst werden an was für gigantische Unterschiede wir uns inzwischen gewöhnt haben. Meine Lieblingswebseite ist die Bilanz.ch[2], da kann man immer live schauen, wer gerade am reichsten ist in der Schweiz – das ist kein Witz. Auf Platz 188 finden wir zum Beispiel die Familie Schneider-Ammann, 475 Millionen Franken Familienvermögen. Möchte jemand, der heute knapp den von den Gewerkschaften geforderten Mindestlohn verdient, also 4000 Franken, auf diesen Betrag kommen, hätte diese Person nie auch nur einen Franken ausgeben müssen und vor allem ca. 6000 von Christus mit Arbeiten anfangen müssen, also ca. zu der Zeit, als die britischen Inseln sich von der europäischen Platte gelöst haben. Aber nicht nur die Differenzen zwischen ganz unten und ganz oben sind krass, sondern zunehmend auch zwischen der Mitte der Gesellschaft und ganz oben. Um das zu verdienen, was der neue CS Chef in 10 Jahren verdient, dafür muss ein Schaffhauser Primarlehrer der ab dem ersten Tag den Maximallohn verdient würde 19 Mal wiedergeboren und jedes Mal 45 Jahre ohne Pause durcharbeiten.
Genossinnen und Genossen, diese riesige Umverteilung ist nicht nur anekdotisch, sie lässt sich statistisch belegen. Wenn wir die Vermögen der 300 Reichsten im Jahr 2007 zusammen zählen, als gerade vor der Krise, kommen wir insgesamt auf 460 Milliarden Schweizer Franken Reinvermögen – das ist ungefähr das Bruttoinlandprodukt von Norwegen oder Schweden. Wenn wir heute, 2015 die Bilanzliste konsultieren besitzen die gleichen 300 Reichsten zusammen 595 Milliarden Franken Reinvermögen – 135 Milliarden mehr in einer Zeit in der der Kontinent in der grössten Krise steckt seit dem 2. Weltkrieg. Das oberste Prozent verdient heute 40% mehr als noch vor 20 Jahren, der mittlere Lohn hat knapp einen Viertel davon zugelegt. Die Steuerpolitik von Bund und Kantonen hat sogar dazu geführt, dass 90% der Bevölkerung unter dem Strich mit Abgaben und Krankenkassenprämien weniger Geld im Portemonnaie hat, nur das oberste Prozent hat mehr[3]. Und seit dem 18. Oktober hat sich im Nationalrat, die „All you can eat“-Koalition eingenistet. Die Selbstbedienung am Steuerbuffet quasi zur neuen Bürgerpflicht erhoben hat. Mit der Unternehmenssteuerreform III und der Abschaffung der Stempelsteuer wollen sie fast vier weitere Milliarden Steuergeschenke an sich selber und ihre Klientel verteilen und von der Bevölkerung bezahlen lassen. 400 Millionen haben sie letzte Woche einer kleinen Gruppe von reichen Bauern geschenkt, Milliarden sollen mit einem gezielten Angriff auf die AHV an die privaten Versicherungen gehen. Und dann steht der Finanzminister hin und verlangt, dass wir Verständnis und Mitleid haben für die Reichen, die ihr Geld in Panama verstecken, damit sie hier keine Steuern mehr zahlen müssen. Genossinnen und Genossen, ich weiss nicht, wie es euch geht, aber ganz ehrlich, mir kommt in diesen Wochen immer und wieder dieselbe eine Frage in den Sinn: Haben die eigentlich noch alle Tassen im Schrank?
Genossinnen und Genossen, der Rechtsrutsch bedroht jetzt alles, was uns lieb geworden ist. Nach uns die Sintflut, lautet das Motto, die Bevölkerung kann selber schauen, wie sie über die Runden kommt. Was hier abläuft ist ein systematischer Raubzug auf den Reichtum dieses Landes und das dürfen wir unter gar keinen Umständen weiter zulassen.
Die besten verbündeten dieser Umverteilungsmaschinerie Angst und Unsicherheit. Nur wer Angst hat vor der Zukunft, der oder die lässt sich seine sozialen Errungenschaften, seine Rechte, seine AHV, seine IV, seine Arbeitslosenversicherung kürzen. Nur, er in einer Situation der permanenten Unsicherheit lebt, der lässt sich einschüchtern mit Gedanken, seine Firma könnte wegziehen und die Arbeitsplätze streichen, nur wer Angst hat vor der Zukunft, willigt ein, mehr zu arbeiten für den gleichen Lohn. Nur, eine Gesellschaft, die in genügend Unsicherheit und Angst lebt akzeptiert ein Wirtschaftssystem, in dem sich einige wenige immer schamloser am gemeinsamen Reichtum bedienen. Und die Folge von Angst und Unsicherheit ist Ohnmacht. Das Gefühl, sowieso nichts ausrichten zu können gegen all’ das, was um uns geschieht. Und genau diese Ohnmacht, ist das politische Ziel der neoliberalen Rechten. Für Sie ist nämlich Politik vor allem etwas, das sie daran hindert, die Menschen und die Ressourcen unseres Planeten auszubeuten. Und mit den multilateralen Handelsverträgen wie TTIP oder TISA erhält dieser Angriff auf die Politik eine neue Dimension. Mit diesen Verträgen sollen die Interessen der internationalen Klasse der Panama-Reichen und ihrer Konzerne über die demokratische Souveränität der Nationalstaaten gestellt werden. Wer ernsthaft von links glaubt, man können diesen Verträgen etwas Gutes abgewinnen, der ist gewaltig naiv, Nein, Genossinnen und Genossen, gegen diese Angriffe auf die Demokratie muss die Linke entschieden Widerstand leisten. Ihre Vorstellung von Politik ist eine Politik, in der man scheinbare Sachzwänge, Standort- oder Steuerwettbewerb, oder die gesellschaftliche Ungleichheit einfach als unveränderlicher Ordnungsrahmen hinzunehmen hat, oder wie es die deutsche Bundeskanzlerin einmal formuliert hat: Eine marktkonforme Demokratie, eine Politik von und für ein paar wenige. Unsere Gesellschaft ist heute an einem Punkt, an dem die Ohnmacht universell scheint: Flüchtlingskrise, Umweltkrise, Klimakrise, Krim-Krise, Wirtschaftskrise. Wer von uns ist am schieren Zustand dieses Planeten nicht schon mindestens einmal fast verzweifelt? Wer von uns hat sich nicht schon ernsthaft gefragt, ob sich all’ das Engagement überhaupt noch lohnt?
Bis vor ein paar Monaten hätte ich an dieser Stelle auf die Geschichte der Arbeiterinnen und Arbeiterbewegung verwiesen. Darauf, dass wir Hoffnung schöpfen können aus der Geschichte der Revolutionen von 1789, von 1848, 1968 von mir aus, von den Erfolgen der Frauenbewegung, der Friedensbewegung, der Homosexuellenbewegung, der Umweltbewegung. Das ist seit dem 28. Februar 2016 nicht mehr nötig. Vielleicht war das nein zur Entrechtungsinitiative ein erster Funken Hoffnung im hier und jetzt. Und wenn es eine Lektion geben kann für die Linke, dann die: Hören wir endlich auf, nur zu Lamentieren. Ja, die Welt ist schlecht und die Rechten ganz fies. Aber die Stärke der Rechten ist immer auch die Schwäche der Linken. Ja, vielleicht ist es schwierig, diesen Kampf zu gewinnen. Aber es ist nicht schwierig, den Kampf aufzunehmen. Man muss es nur tun – aufstehen, gemeinsam für gute Löhne, gute Renten, Freiheit, Demokratie, Menschenwürde und Rechtsstaat.
[1] Zahlen aus der Asylstatistik März 2016: https://www.sem.admin.ch/sem/de/home/publiservice/statistik/asylstatistik/archiv/2016/03.html
[2] http://www.bilanz.ch/people/300-reichste/reichsten-updates/die-300-reichsten-werden-reicher-und-reicher-506498
[3] vgl. http://www.verteilungsbericht.ch/