Sonntagabend, 1700 Uhr. Eben hat das Volk die IV-Zusatzfinanzierung mit 55% deutlich abgelehnt. Die Enttäuschung ist gross, klar. Aber überraschend kommt das Resultat nicht. Man erinnert sich zurück an den 16. Mai 2004. Damals sagte das Volk noch mit 69 % Nein zu einer ganz ähnlichen Vorlage. Das aktuelle Resultat ist also immerhin schon besser. Aber Mehrwerts-Steuererhöhungen sind und bleiben unpopulär. Erst recht mitten in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit über 30 Jahren. Und dann war da noch die millionenschwere SVP-Kampagne: Wochenlang wurde in unzähligen ganzseitigen Inseraten die IV als Missbrauchs-Versicherung diffamiert. Und Tausende von Plakaten suggerierten, dass es um eine MwSt-Erhöhung von 8% ging. Unter diesen Umständen war ein Ja kaum zu erreichen.
Die Folge des Nein? Lautstarke Forderung nach einem Rentenabbau von Rechts. Die SVP folgert, dass das Volk zum Ausdruck gebracht habe, „dass Missbräuche konsequent bekämpft werden müssen.“ Und zwar über die in Aussicht gestellten Abbau-Vorschläge der Regierung. „Diese reichen nicht aus.“ Es braucht jetzt einen Abbau „im Umfang von 1.4 Milliarden.“. Die FDP steht der SVP natürlich in nichts nach: „Das Resultat ist ein klarer Auftrag für ausgabenseitige Massnahmen.“ Darum verlangt die FDP gleich eine Streichung der Renten für „60‘000 Personen“, wie Parteipräsident Pelli sagt. Und auch die Medien stossen ins gleiche Horn. Die NZZ wertet das Resultat als Auftrag für eine 6. IV-Revision. Und der Tagi titelt: „Der Druck auf die IV-Renten steigt.“.
Tönt logisch. Scheitert die Zusatzfinanzierung, kommt die Forderung nach Einsparungen. Nur: Der erste Abschnitt ist bekanntermassen erfunden. Der zweite allerdings nicht. Das wirft Fragen auf: In Tat und Wahrheit wurde die IV-Zusatzfinanzierung angenommen, und zwar mit 55% Ja-Stimmen und rund 200‘000 (!) Personen Unterschied, deutlich. Dies trotz unpopulären Steuererhöhungen. Trotz Wirtschaftskrise. Und trotz millionenschwerer SVP-Kampagne. Warum werden nun trotzdem die genau gleichen Schlussfolgerungen gezogen, wie wenn die Vorlage abgelehnt worden wäre?
Hat das Volk am vergangenen Sonntag nicht vielmehr Ja gesagt zu einer starken Sozialversicherung? Ja dazu, dass Menschen in diesem Land aufgrund von Krankheiten, Unfall oder Behinderung eben nicht in existentielle Not geraten dürfen? Ist es nicht ein Ja zur Solidarität und zu mehr sozialer Gerechtigkeit? Eines, wofür sogar eine Steuererhöhung mitten in der Krise in Kauf genommen wird?
Das Resultat ist ein klares Bekenntnis zu einer starken IV. Es würde dem Volksentscheid widersprechen, wenn jetzt 12‘500 laufende Renten vom einen auf den anderen Tag gestrichen würden, ohne sich über das Schicksal der Menschen dahinter zu kümmern – so wie das die 6. IV-Revision vorsieht. Oder wenn jetzt zehntausenden psychisch kranker Menschen keine Rente mehr gewährt würde und sie damit einfach in die Sozialhilfe abgeschoben würden, wie das FDP und SVP jetzt fordern.
Wenn man den Volksentscheid ernst nimmt, braucht es eine IV-Politik, die sich am Schicksal der Menschen ausrichtet. Eine Politik, welche die zentrale Frage der IV beantwortet: Eingliederung vor Rente ist gut. Wiedereingliederung auch. Aber wo? Und wie? Was macht die Politik angesichts der Tatsache, dass die Privatwirtschaft immer weniger Plätze für Menschen mit Behinderungen zur Verfügung stellt? Wenn zukünftige Revisionen dumpf Renten streichen und lediglich die Durchreichung der Menschen von der IV in die Sozialhilfe bringen, dann hat die Politik total versagt. Und den Volksentscheid vom vergangenen Sonntag nicht umgesetzt.
Von Thomas Christen, Generalsekretär, SP Schweiz