Ich erzähle Ihnen eine Geschichte, die den Besuchergruppen im Bundeshaus erzählt wird: Als man sich vor gut hundert Jahren daran machte, das neue Parlamentsgebäude mit symbolträchtigen Figuren auszustatten, schlugen die Aargauer den Bauernführer Niklaus Leuenberger vor. Er hatte im 17. Jahrhundert den Freiheitskampf der Aargauer Untertanen gegen ihre damaligen Herren angeführt und den sogenannten Bauernkrieg schliesslich verloren. Er wurde in hingerichtet. Für die Aargauer ist Leuenberger eine historische Heldenfigur, ein Freiheitskämpfer wie Wilhelm Tell. Der Kanton Bern wehrte sich vehement gegen den Vorschlag, Leuenberger im neuen Bundeshaus einen Ehrenplatz einzuräumen. Für ihn war er ein Rädelsführer, ein Aufständischer, ein Unruhestifter, ein Revoluzzer, denn die Berner waren die Herren gewesen gegen die sich die Aargauer erhoben hatten. Sie hatten Leuenberger hingerichtet. Man konnte sich natürlich nicht einigen und darum gibt es jetzt dort im Bundeshaus, wo die Aargauer den Bauernführer hinstellen wollten, einen weissen Vorhang.
Diese kleine Episode wirft nicht nur ein Licht auf die Zustände in der Alten Eidgenossenschaft, sie wirft vor allem auch ein Licht auf dem Umgang mit dieser Geschichte. 50 Jahre nach der Gründung des schweizerischen Bundesstaates wollte die offizielle Schweiz nicht mehr wahrhaben, was die Alte Eidgenossenschaft wirklich gewesen war. Sie war im Gegenteil daran, sich eine glorreiche Geschichte zurecht zu zimmern, die im wesentlichen der Phantasie von Friedrich Schiller folgte und nicht den realen historischen Verhältnissen. Sie machte aus seinem Theaterhelden Wilhelm Tell und seinem Theater-Ereignis Rütlischwur historische Figuren und Vorgänge, die es so nie gegeben hatte. Die damalige offizielle Schweiz konstruierte also eine Wunsch-Vergangenheit, die so ziemlich das Gegenteil war von der Real-Vergangenheit:
„Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern; lieber den Tod als in der Knechtschaft leben“. Das ist der programmatische Satz aus Schillers Wilhelm Tell. Das ist die Wunschgeschichte. Tatsächlich aber war die Alte Eidgenossenschaft nicht ein einig Volk von Brüdern gewesen, sondern ein Konglomerat von Herrenvölkern und Untertanenvölkern. Grosse Teile der heutigen Schweiz lebten damals in Knechtschaft, der Knechtschaft der Alten Eidgenossen nämlich. Ich habe nie verstanden, warum man im Aargau, im Thurgau, in der Waadt, im Rheintal, im Tessin und in vielen anderen Gegenden der Schweiz am 1. August jene alte Zeit mitfeierte und mit glorifizierte, in der man unfrei war, minderberechtigt, bevogtet und ausgebeutet von jenen 13 eidgenössischen Orten, die über sie herrschten.
Meine Damen und Herren, die Schweiz entstand nicht 1291, sondern zwischen 1798 und 1848; sie war nicht die Fortsetzung der Alten Eidgenossenschaft, sondern deren Zerstörung und Überwindung. Sie ist nicht entstanden durch heldenhaften Kampf gegen äussere Feinde, sondern war das Ergebnis härtester interner Konflikte: Zuerst der Aufstand der Untertanengebiete gegen ihre eidgenössischen Herren, bekannt geworden als Helvetische Revolution, am Schluss der Bürgerkrieg zwischen liberalen reformierten und katholisch-konservativen Ständen. Und dazwischen trat als ganz wichtiger Geburtshelfer der Kaiser Napoleon mit seiner Armee in Erscheinung, der die helvetische Schweiz militärisch besetzte und den neuen bürgerlichen Ideen mächtig Auftrieb gab.
Warum erzähle ich das? Aus zwei Gründen. Erstens bin ich für einen ehrlichen Umgang mit der Geschichte. Wir sollten unsere Vergangenheit nicht durch eine verklärende und beschönigende Brille betrachten, sondern durch eine realistische, der Wahrheit verpflichtete. Nur so können wir unsere wahren Werte und Wurzeln frei legen. Und wenn wir schon Helden brauchen, dann sollten es wenigstens die richtigen sein. Es war der Bundesstaat, der den Menschen Freiheit brachte: Redefreiheit, Pressefreiheit, Niederlassungsfreiheit, Versammlungsfreiheit. Das gab es vorher nicht. Es war der Bundesstaat, der zwischen Stadt und Land und unter den Kantonen Gleichheit herstellte. Es war der Bundesstaat, der die direkte Demokratie und den Föderalismus mit seinem ausgeprägten Minderheitenschutz verwirklichte. Das gab es vorher nicht. Es war der Bundesstaat, der die unentgeltliche Volksschule einführte und den vorher grassierenden Analphabetismus besiegte. Es war der Bundesstaat, der als erster Staat in der Welt Kinderarbeit verbot und so den ersten Schritt hin zur Schweiz als Sozialstaat vollzog.
Mein zweiter Grund für den ehrlichen Umgang mit der Geschichte: Gesellschaften, die eine Wunsch-Vergangenheit pflegen, neigen auch dazu, sich in der Gegenwart an gewünschten statt real existierenden Zuständen zu orientieren. Das wirkt sich früher oder später fatal aus, weil man aus falschen Annahmen eben falsche Schlüsse zieht. Lassen Sie mich das an einem Begriff erläutern, der immer am 1. August speziell ins Zentrum gerückt wird, demjenigen der Unabhängigkeit unseres Landes. Es wird von gewissen Kreisen mit viel propagandistischen Mitteln der Eindruck erweckt, wir seien als Staat vollständig unabhängig und könnten tun und lassen was wir wollen. So sehr ich den Wunsch nach Unabhängigkeit verstehe, so sehr plädiere ich dafür, den Wunsch nicht mit der Realität zu verwechseln. Nehmen wir als Beispiel die aktuelle Wirtschaftskrise. Sie ist nicht in der Schweiz entstanden, aber die Schweiz ist von ihr voll erfasst worden, weil sie wirtschaftlich aufs engste mit der Welt verbunden ist. Unser Land verdient jeden zweiten Franken mit Exporten, also im Ausland; das bringt uns zwar Wohlstand, aber der Preis ist natürlich eine stetig wachsende Abhängigkeit von der ausländischen Kundschaft, die unsere Produkte kauft. So merkwürdig es tönen mag, so wahr ist es: Für den Schaffhauser Industriekonzern Georg Fischer als Zulieferer der Automobilindustrie ist das Konjunkturförderungsprogramm der deutschen Regierung wesentlich wichtiger als dasjenige der Schweiz.
Nehmen wir als zweites Beispiel das sogenannte Bankgeheimnis. Wir erinnern uns an die markigen Worte des früheren Finanzministers Kaspar Villiger, der sagte: „Das Bankgeheimnis ist nicht verhandelbar“. Wir erinnern uns an die markigen Worte des amtierenden Finanzministers Hans Rudolf Merz: „Wer das Bankgeheimnis knacken will, wird auf Granit beissen.“ Wir wissen, was im letzten halben Jahr geschehen ist: Das Bankgeheimnis ist geknackt, es hat dem Druck der grossen Wirtschaftsmächte, die unsere wichtigsten Handelspartner sind, nicht stand gehalten. Der Granit hat sich als Papier erwiesen. Die beiden Finanzminister und mit ihnen viele andere einflussreiche Leute haben sich gründlich getäuscht. Sie haben sich getäuscht, weil ihnen die Wunschwelt den Blick auf die Real-Welt verstellte. Das Resultat kennen wir: Die Schweiz hat als Wirtschaftsnation und als Staat enormen Schaden erlitten.
Lassen Sie mich die Frage der Unabhängigkeit noch von einem anderen Punkt aus beleuchten, weil sie zentral ist für die Stellung der Schweiz in der Welt und vor allem in Europa.
Ich arbeite seit mehr als neun Jahren als Nationalrat in der Gesetzeswerkstatt in Bern. Ich erlebe tagtäglich die mehr oder weniger stille Anpassung unseres Rechts an die Regelungen der Europäischen Union. Es gibt kein Gesetz mehr, das nicht so weit wie möglich europakompatibel gestaltet wird. Gewisse Verordnungen der EU sind sogar Buchstabe für Buchstabe kopiert und vom Bundesrat ins schweizerische Recht überführt worden. Man nennt diesen Vorgang autonomen Nachvollzug. Da haben wir sie wieder, diese beschönigende, den Leuten Sand in die Augen streuende Art, unangenehmen Wahrheiten auszuweichen. Autonom ist dieser Nachvollzug von EU-Recht nicht, denn autonom würde ja heissen, wir können es tun, wir können es aber auch lassen. Die Wahrheit ist, dass wir es eben nicht lassen können. Die Sachzwänge sind derart stark, dass wir die Interessen der Schweizer Bevölkerung durch Anpassung unseres Rechts an das europäische wesentlich besser vertreten als durch Alleingänge.
Was mich stört an diesem Nachvollzug ist die Tatsache, dass wir zwar je länger je mehr europäisches Recht übernehmen, aber nicht dabei sind, wenn es von den europäischen Behörden beschlossen wird. Wir sind nicht EU-Mitglied. Wir sitzen in Brüssel im Vorzimmer und schauen zu und hören zu, wie andere bestimmen, auch über uns bestimmen. Das ist das Gegenteil von Autonomie, das Gegenteil von Unabhängigkeit.
Meine Damen und Herren, es schmerzt mich manchmal fast körperlich, wenn ich mir diese unwürdige Situation vergegenwärtige oder wenn ich – wie jetzt – darüber rede. Es ist wie mit dem falschen Geschichtsbild und wie mit dem Bankgeheimnis: Statt sich den Realitäten zu stellen und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen, klammert man sich an Fiktionen, an Wunschwelten und führt die Schweiz in die Sackgasse. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Schweiz als EU-Mitglied weniger abhängig wäre von der EU, weil wir Einfluss nehmen könnten auf ihre Beschlüsse statt sie einfach übernehmen zu müssen.
Meine Damen und Herren, statt unhaltbare Positionen zu verteidigen sollte die Schweiz gegenüber der Staatengemeinschaft eine selbstbewusste offensive Politik vertreten. Wir müssen uns nicht verkriechen, wir müssen uns nicht kleiner machen als wir sind. Wir sollten uns auch nicht von falschen Propheten in die Wüste führen lassen. Falsche Propheten, die zB den Bau von Minaretten verbieten wollen. Wo sind wir eigentlich? Gehörte nicht die Religionsfreiheit zu den grössten Errungenschaften des neuen Bundesstaates? Wie wenig Vertrauen in unsere eigenen Werte muss man eigentlich haben, um den Angehörigen einer anderen Religion verbieten zu wollen, ihre Art von Kirchturm zu bauen?
Wir müssen uns auf die wahren Qualitäten unseres Landes besinnen und diese selbstbewusst vertreten – auch in Europa und in der Welt. Wir können dank diesen Qualitäten eine Rolle spielen, die weit über die Grösse der Schweiz hinaus geht, aber diese Rolle spielen wir nur mit unsere echten Trümpfen. Was sind diese Trümpfe?
– Der staatliche Föderalismus: Er ist zwar reformbedürftig, wir müssen seine aus dem 19. Jahrhundert stammende Gestalt dem 21. Jahrhundert anpassen, aber als Methode der staatlichen Machtteilung ist der Föderalismus ein Konzept mit grosser Zukunft;
– Die Sozialpartnerschaft mit ihren Gesamtarbeitsverträgen. Von ihr geht nicht nur sozialer Friede aus, sie ist auch ein entscheidender Wettbewerbsvorteil unserer Wirtschaft;
– Das Berufsbildungssystem. Dank ihm haben wir nicht nur eine universitär gebildete Elite, sondern auch eine hochqualifizierte Arbeitnehmerschaft, die weltweit beste;
– Die Integrationskraft unserer Gesellschaft. Wir haben nach der Staatsgründung den tiefen kulturellen Graben zwischen der städtischen, liberalen, reformierten und der ländlichen, katholisch-konservativen Schweiz aufgefüllt. Wir haben den tiefen Klassengraben zwischen dem Bürger- und Bauerntum einerseits und der Arbeiterschaft anderseits nach Jahrzehnten heftigster Konflikte zugeschüttet. Wir sind daran, den Geschlechtergraben aufzufüllen, indem wir die meisten der zahlreichen Diskriminierungen der Frauen beseitigt haben. Wir haben die ungefähr zehn Prozent unserer Bevölkerung, die homosexuell sind, vom Leben im Versteckten und Verfemten befreit und ihnen die Freiheit gegeben zu leben wie sie sind. Wir leben zusammen mit einer grossen Minderheit von Ausländerinnen und Ausländern. Wir tun es selbstverständlich nicht konfliktfrei, aber ohne wirklich gravierende Spannungen. Integrationskraft heisst, gesellschaftliche Konflikte nicht nur austragen, sondern auch lösen, friedlich und demokratisch lösen. Wir werden wir als demokratisches Land mit seiner eindrücklichen Integrationsgeschichte in Zukunft die nächste anstehende Integrationsaufgabe lösen müssen, nämlich die Gewährung der politischen Rechte an die seit längerem in der Schweiz lebenden Ausländerinnen und Ausländer.
– Unsere direkte Demokratie. Sie wird immer wieder in Zweifel gezogen, weil sie zu langsam sei oder zu wenig effizient oder nicht mehr zeitgemäss oder dem wirtschaftlichen Fortschritt im Wege stehe. Ich teile diese Auffassung ganz und gar nicht. Die direkte Demokratie ist ein kostbares Gut, ist das schweizerischste Stück Schweiz, dem wir Sorge tragen müssen.