Zu wenig zum Leben

Hey Aline, wir gehen am Wochenende wandern, kommst du mit? Nächsten Freitag feiere ich Geburtstag und wir gehen essen, bist du dabei? Mal wieder alle zusammen einen Städtetrip machen, wie wärs Aline?

Aline: «Sorry Leute, ich kann leider nicht.» Und die Leute wissen auch, wieso Aline nicht kann. Aline verdient zu wenig, um sich ein schickes Essen oder einen Wanderausflug spontan leisten zu können.

Aline ist 31 Jahre alt und arbeitet seit 4 Jahren in einer privaten Kita als Fachfrau Betreuung. Bereits nach der Sek war ihr klar, wo ihre Talente und Interessen liegen. Der Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern lag ihr schon immer.

Doch bevor frau* eine 3-jährige Berufsausbildung als Fachfrau Betreuung mit Kindern anfangen kann, muss sie erst noch mindestens ein (!) Praktikum absolvieren. Aline hat deren 3 absolviert und schliesslich doch keinen Ausbildungsplatz gefunden, denn die Stellen sind rar. Sehr viele Kitas leiden an chronischem Personalmangel, weshalb sich viele Ausbilderinnen keine Zeit nehmen können, Lehrlinge auszubilden. Die leichteren Aufgaben, die weniger Verantwortung und Erfahrung erfordern, werden bereits von den Praktikantinnen übernommen. Ausserdem sind Praktikantinnen, anders als Lehrlinge, die ganze Woche anwesend. Wenn also wegen Überlastung und Personalmangel keine Zeit ist, die angehende Fabe anzuleiten und auszubilden, steht sie nur im Weg und kostet den Betrieb Geld (was er meist nicht hat). Circa die Hälfte der Angestellten im Kinderbetreuungssektor ist deshalb nicht ausgebildet.

Zurück zu Aline. Sie hat sich also für eine Schreinerlehre entschieden, diese abgeschlossen und dann mehrere Jahre auf der Baustelle gearbeitet. Doch Erfüllung konnte sie in diesem Beruf selten finden. So entschloss sie sich mit 24 Jahren doch für die Ausbildung als Fachfrau Betreuung Fachrichtung Kinder. Die Lehre machte sie in einem Kinderhort und übernahm nach Abschluss der Ausbildung eine Stelle in einer Kita für Säuglinge und Kleinkinder.

Aline geht in ihren Beruf auf. Sie liebt den Umgang mit den Kindern und schätzt den Austausch mit den Betreuerinnen und den Eltern. Sie weiss, was sie tagtäglich leistet und ist stolz darauf. Doch manchmal ist sie auch wütend und verzweifelt. Wenn sie nicht schlafen kann, weil die Geldsorgen sie wachhalten. Wenn sie sich überlegt, wie sie diesen Monat über die Runden kommen soll. Ob sie nun eine weitere Ausbildung anfangen soll. Nicht weil sie in ihrem Beruf unzufrieden ist, sondern weil das Geld nicht reicht. Diese Probleme quälen viele erfahrene Betreuerinnen. Viele entscheiden sich deshalb früher oder später aus finanziellen Gründen gegen den Beruf, obwohl dieser sie erfüllt. Mit  jedem Wechsel und jedem Abgang geht sehr viel Erfahrung und Fachwissen verloren, worunter schliesslich die Qualität der Betreuung leidet.

Angestellt ist Aline nur zu 80%. «Will ich einen guten Job machen, kann ich nicht Vollzeit arbeiten. Die Belastung ist einfach zu gross. Ich muss ständig präsent und 100% aufmerksam sein. Stell dir vor, einem der Kinder geschieht was in meiner Verantwortung? Ich muss gleichzeitig energetisch, wach, ausgeglichen, liebevoll und geduldig sein. Das ist nicht nur psychisch, sondern auch physisch extrem anstrengend. Permanent trage ich mindestens ein Kleinkind mit mir rum, oft auch zwei. Das sind schnell mal 15 Kilo, die frau den ganzen Tag zusätzlich «schleppt». Die Säuglinge brauchen ausserdem körperliche Nähe und Zuneigung für eine gesunde Entwicklung. Trotz ständiger Überbelastung und Stress muss ich also fähig sein, sie zu beruhigen und ihnen Vertrauen und Sicherheit zu schenken. Tagtäglich trage ich die Verantwortung für das Wohl der Kinder, für ihren Körper und Geist. Das ist auslaugend und die körperlichen Folgen sind bald spürbar. In meiner Kita leiden alle an Tinnitus. Bei diesem andauernden Geschrei. Ausserdem sind Rücken – und Knieprobleme sehr verbreitet. Vom ständigen ungesunden Lupfen und vom Rumkriechen auf dem Boden. Zusätzlich arbeiten wir in einem Bakterienherd. In einer Kita verbreiten sich Erreger sehr schnell, dem sind wir ständig ausgesetzt.

Aline verdient 3300.- pro Monat. Allein für ihre Wohnung in der Stadt Zürich zahlt sie 1400.-, Anrecht auf eine vergünstigte Stadtwohnung hat sie nicht. Sie ist in der Stadt aufgewachsen, ihr Freundeskreis und ihr Lebensmittelpunkt befindet sich hier. Kann man ihr vorwerfen, dass sie nicht aufs Land oder in die Agglo zieht, um dort günstiger zu wohnen? Ihre Fixkosten betragen 1200.- individuelle Prämienverbilligung erhält sie nicht. Dafür verdient sie dann doch wieder zu viel. Fleisch und Fisch kauft sie so gut wie nie. Aline besitzt weder Laptop, Computer noch Fernseher. Sie geht wenig aus, Kleider übernimmt sie fast ausschliesslich von ihren Freundinnen. Das Einzige, was sie sich leistet, ist ein gutes Fitness Abo. Dafür zahlt sie monatlich 150.-.

Aline überlegt, eine Weiterbildung zu machen. Wie soll sie diese finanzieren? Vollzeit in der Kita arbeiten, das kommt für sie nicht in Frage. «Dann leidet meine Arbeit und schlussendlich die Kinder». Also geht sie an ihrem freien Tag in einem Café arbeiten.

Wie kann es sein, dass eine Kita-Betreuerin jeden Rappen umdrehen muss? Wie kann es sein, dass die Gruppen überbelegt sind, das Personal ständig unterbelegt und überarbeitet ist, fast keine Zeit für Ausbildungsarbeiten ist und kaum Aus -und Weiterbildungsmöglichkeiten bestehen? Wie kann man unter solchen Umständen die beste Kinderbetreuung erwarten?

Das Kinderbetreuungswesen ist nicht gewerkschaftlich organisiert, einen Gesamtarbeitsvertrag kennt nur der Kanton Waadt. Die Bewilligungs -und Aufsichtspflicht für Betreuungsinstitutionen obliegt den Kantonen, wobei die Zuständigkeit von Kantonen und Gemeinden sehr unterschiedlich geregelt ist. Es existieren lediglich Richtlinien. Der Staat nimmt sich aus der Verantwortung, weshalb 90% der Kita-Anbieter in der Schweiz privat organisiert sind. Mehr als die Hälfte der Gemeinden bieten überhaupt keine Kita-Plätze an und ¾ aller Kinder unter 3 Jahren haben keinen Zugang zu einem Kita-Platz. In der Stadt Schaffhausen gibt es 345 Kita Plätze, wovon 187 subventioniert sind. Mindestlöhne werden nur bei subventionierten Kitas festgesetzt, wobei der Kanton Schaffhausen auch hier keine Vorgaben anwendet. Prozentual zum BIP wird 0.2 % für die Kinderbetreuung in der Schweiz ausgegeben. Damit bildet sie im europäischen Vergleich das Schlusslicht.

Der Staat müsste sowohl ein soziales als auch ein wirtschaftliches Interesse daran haben, diesen Missstand zu beheben. Einerseits muss den Arbeitnehmenden im Kinderbetreuungssektor durch eine Erhöhung der Löhne, Gesamtarbeitsverträge und nationale Regelungen mehr Anerkennung und Respekt entgegengebracht werden. Dem Verlust von Fachwissen und Erfahrung durch häufigen Branchen- und Personalwechsel muss durch bessere Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten vorgebeugt werden. Die gewerkschaftliche Organisation soll vorangetrieben werden. Weiter müssen die Geldflüsse in die Kinderbetreuung massiv erhöht werden, um das Platzangebot zu vergrössern. Damit wird nicht nur der Gleichberechtigung und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf Rechnung getragen, sondern die Erwerbstätigkeit schweizweit erhöht.

«So kann’s auf jeden Fall nicht weitergehen!», findet auch Aline.

*zur Abwechslung wird in diesem Text die weibliche Form benutzt. Dies soll darauf hinweisen, dass der Missstand im Kinderbetreuungswesen, weil es noch immer ein typischer Frauenberuf ist, vor allem Frauen betrifft. Die gleiche Ungerechtigkeit trifft natürlich auch Männer in diesem Berufsfeld, die allerdings zahlenmässig stark unterlegen sind.

Zoe Lehmann, Schaffhausen, 31.01.2019

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