Frühlingssession 2018 des Nationalrats

Von Martina Munz, Nationalrätin

Eine Session mit wenig grossen Geschäften und vielen persönlichen Vorstössen.

Kuscheljustiz für Raser

Bei der Ausschaffungsinitiative wurden harte Strafen für Bagatelldelikte gefordert. Einen

Ermessensspielraum für Gerichte brauche es nicht, Ausnahmen für Härtefälle seien nicht nötig. Szenenwechsel: Raser werden seit 2013 dank der zurückgezogenen Raser-Initiative „Via Sicura“ härter bestraft. Die Initiative zeigte rasch Wirkung, wurden doch seither weit über hundert Tote oder Schwerstverletzte verhindert. Trotz dieser Erfolgsgeschichte forderte die SVP mildere Strafen! „Der Richter soll Ermessensspielraum erhalten, er soll die Schick-sale sehen“, forderte Ulrich Giezendanner. Es gehe um unbescholtene Bürger, die eine Tem-poreduktion übersehen hätten. Die Verhältnismässigkeit müsse wieder hergestellt werden. Für Raser gelten nun wieder milde Strafen, sogar wenn sie Ausländer sind! Die Erkenntnis, dass Ermessensspielraum und Verhältnismässigkeit im Rechtstaat von grosser Bedeutung sind, gilt offenbar nur für Strassensünder.

Persönlichkeitsschutz vor Gewinnmaximierung

Unsere Intelligenz, Talente und Krankheitsrisiken lassen sich aus den Genen ablesen. Bereits in den Blutanalysen einer schwangeren Frau, können das Krankheitsrisiko und die Veranlagung des Embryos erkannt werden. Kein Zweifel, dass Arbeitgeber und Versicherungen grosses Interesse an diesen Daten haben. Viele Lifestyle-Gentests sind schon im Handel erhältlich. Ein allfälliges Krankheitsrisiko zeigt sich in den Genen bereits in frühester Kindheit. Das Missbrauchspotenzial und die kommerziellen Interessen sind gross. Die Versicherungsbranche wollte deshalb per Gesetz an diese genetischen Daten gelangen. Das ist brandgefährlich, denn damit wird der Diskriminierung Tür und Tor geöffnet. Betroffenen könnten höhere Prämien oder gar ein Versicherungsausschluss drohen. Als Kommissionssprecherin habe ich mich intensiv mit den ethischen Fragen dieses Gesetzes auseinandergesetzt und mich entsprechend engagiert. Zusammen mit der der Patientenstelle und dem Konsumentenschutz konnten wir die Gefahr eines löchrigen Persönlichkeitsschutzes erfolgreich verhindern.

Asbestopfer warten seit Jahren auf Genugtuung

Die Schweiz verletzt mit der kurzen Verjährungsfrist von 10 Jahren das Recht auf ein faires Verfahren. Personen, die mit Asbest gearbeitet haben, erkranken oft erst mehrere Jahrzehnte später an Lungen- oder Brustfellkrebs. Betroffen sind besonders Handwerker, die teilweise bis heute Asbeststaub ausgesetzt sind. Das ergibt die absurde Situation, dass An-sprüche auf Schadenersatz verwirkt sind, bevor die Krankheit ausbricht. Der Bundesrat be-antragte die absolute Verjährung auf 30 Jahre erhöhen. Wirtschaftsvertreter wollten keine Verlängerung der Verjährung, schliesslich sei für Asbestopfer ein Fonds geschaffen worden. Der Nationalrat zeigte wenig Mitgefühl mit den Opfern und entschied sich für den Kompromiss von 20 Jahren. Gerecht wäre eine relative Verjährungsfrist von fünf Jahren, die erst zu laufen beginnt, bei Ausbruch der Krankheit. Der Ball liegt nun beim Ständerat. Es ist zu hoffen, dass Asbestopfer durch das Gesetz nicht ein zweites Mal zu Opfern werden.

Abbau auf dem Buckel von Alten und Behinderten

Für über 300‘000 Menschen in der Schweiz sind die Ergänzungsleistungen (EL) lebenswichtig. Die EL-Reform sollte Verbesserungen bringen für zehntausende Menschen, welche sich die Miete vom Mund absparen müssen. Doch die Mietzinsmaxima wurden kaum angehoben, auf dem Land kommt es sogar zu Senkungen. Der Nationalrat zeigte Härte und kürzte bei Behinderten und Betagten Leistung von rund 700 Millionen Franken. Einmal mehr wird bei den sozial Schwachen abgebaut. Zu hoffen bleibt, dass der Ständerat die Entscheide korri-giert. Sonst wird die EL-Reform für die Gemeinden zum Bumerang, denn wer mit der EL zu wenig zum Leben hat, ist auf die Sozialhilfe angewiesen.

Sozialdetektive erhalten mehr Rechte als die Polizei

Von links bis rechts war man sich einig, dass Versicherungsbetrug bekämpft werden muss. Niemand will den Missbrauch von Sozialversicherungen schützen. Der Gesetzesentwurf schiesst aber weit übers Ziel hinaus. Observationen sind starke Eingriffe in die Grundrechte. Schutz der Privatsphäre und Schutz vor Willkür ist ein hohes Gut. Für Observationen braucht es neu keine richterliche Genehmigung mehr. Was von öffentlichem Grund einsehbar ist, darf beobachtet werden, selbst mit Drohnen. Damit erhalten Versicherungen weitergehende Kompetenzen als die Polizei zur Verfolgung von Terroristen. Der Blick titelte: „Freipass für Sozialschnüffler“. Erschreckend schnell wurde dieses Gesetz durch die Räte in einer einzigen Woche durchgepeitscht, als ob es sich um Notrecht handeln würde. Die Frage, ob für Steuerbetrug auch so weitgehende Observationen eingesetzt werden könnten, wurde als unnötig abgetan. Bei diesem Kavaliersdelikt wird weggeschaut!

Leere Kassen für Berufsbildung

Der Erfolg des Schweizer Teams an der Berufsweltmeisterschaft WorldSkills 2017 war mit 20 Medaillen überwältigend. Stolz empfing Bundesrat Schneider Ammann die erfolgreichen Berufsleute am Flughafen und später auch im Bundeshaus. Das Berufsbildungssystem ist auch ein Exportschlager. „Schneider-Ammann hilft Ivanka Trump auf die Sprünge“, so die Schlagzeilen. Doch im eignen Land muss ihm das Parlament auf die Sprünge helfen. Die 30 Millionen Franken für die Durchführung der WorldSkills in der Schweiz fehlen, die Bundeskassen seien leer. Ironischerweise sicherte der Bundesrat gleichzeitig eine Milliarde Franken für die Olympiade 2026 in Sion zu. Berufsbildung geniesst ein hohes Ansehen, nur kosten darf sie nichts. Mein Vorschlag mit einer Kommissionsmotion Druck auf den Bundesrat auszuüben war erfolgreich. Mit einer einzigen Gegenstimme wurde der Antrag die WorldSkills in der Schweiz durchzuführen vom Nationalrat genehmigt. Gewisse Anliegen finden über Parteigrenzen hinweg Unterstützung, sogar wenn der Vorschlag von links kommt.

Was die Wirtschaft den Frauen nicht zugesteht, soll der Staat richten

„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ ist noch nicht verwirklicht. Der Ständerat war sich einig, dagegen müsse man etwas tun – nur nicht jetzt und nicht so! Bundesrätin Sommaruga wollte das Gleichstellungsgesetz mit einem Lohntransparenzartikel ergänzen. Der Ständerat wies die Minireform zurück und forderte weiterhin freiwillige Massnahmen. Sommaruga kämpfte: „37 Jahre Freiwilligkeit ist genug!“ Ständeratspräsidentin Karin Keller-Sutter wollte keine Lohntransparenz, sie sei schädlich für die Wirtschaft. Gleichzeitig schlug sie einen Bonus für tiefe Frauenrenten bei der AHV-Reform vor. Das ist Zynismus pur! Die Wirtschaft verweigert den Frauen faire Löhne, der Staat soll die Diskriminierung über die AHV ausgleichen. „Weniger Staat, mehr Privat“ à la FDP! Wir Frauen staunten, als kurz darauf eine Einladung auf dem Tisch lag für ein freundschaftliches Zusammenseins mit einem Zitat von Michelle Obama: “There is no limit to what we, as women, can accomplish”; Absender Karin Keller-Sutter. Auch das ist ziemlich zynisch. Bei der Gleichstellung steht ihr die Wirtschaft näher, aber als zukünftige Bundesrätin wird sie auf unsere Frauenstimmen angewiesen sein!

Grosszügige Geschenke

Die Bauernlobby ist zweifelsfrei stärker als die die Lobby der Frauen, obwohl die Landwirtschaft nur rund vier Prozent der Bevölkerung vertritt. „Nationalrat greift Zuckerproduzenten unter die Arme“, „Mehr Flexibilität für graslandbasierte Fütterung“, „Bund soll sich bei Steu-erung der Milchmenge einschalten“, „Anbindeställe dürfen nicht benachteiligt werden“, „Steuerprivilegien für Bauern“. Diese Vorstösse und einige mehr wurden zugunsten der Bau-ern überwiesen. Mit dem Vorstoss „Scheunen und Ställe einfacher in Wohnungen umbauen“ können rund 200‘000 Gebäude ausserhalb der Bauzone neu genutzt werden. Diese einzige Motion würde eine Wertvermehrung von rund 20 Milliarden Franken auslösen als respektables Geschenk an den Bauernstand! Die Kosten der dazu nötigen Infrastrukturen aber bleiben wohl an der Öffentlichkeit hängen. Vor sechs Jahren wurde die Zweitwohnungsinitiative angenommen. Obschon die Bevölkerung die Zersiedlung stoppen will, werden nun grif-fige Gesetze aufgeweicht und durchlöchert. Die Zerstörung des Kulturlandes sowie die Zer-siedlung werden auf Druck und zum Eigennutz der Landwirtschaft eifrig vorangetrieben.

Hallau, 15. März 2018, Martina Munz, Nationalrätin/ www.martinamunz.ch 

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