Rede von Bundesrat Alain Berset anlässlich der Verleihung des Salzburger Stiers – Es gilt das gesprochene Wort.
Bis vor kurzem wussten wir noch, wie die Welt funktioniert. Bis vor kurzem zweifelten wir nicht daran, worauf unser Weltbild basierte – und zwar unabhängig von der Art dieses Weltbildes. Auf Fakten, Fakten, Fakten.
Aber jetzt sind seltsame Zeiten angebrochen. Der amerikanische Satiriker Stephen Colbert bringt die gegenwärtige Verwirrung so auf den Punkt: „Wenn man darüber nachdenkt, macht es Sinn. Und wenn man nicht darüber nachdenkt, dann macht es noch mehr Sinn.”
Das Wort „Post-Truth” wurde vom Oxford Dictionary zum Wort des Jahres 2016 gewählt. Das Postfaktische, groteske Behauptungen, fake news: Sie haben derzeit Hochkonjunktur.
Und die Schweiz? Uns kann das alles nicht erschüttern. Wir waren schon immer postfaktisch. Wer an die Schweiz denkt, sieht oft noch immer das Heidi über saftige Wiesen rennen. Tatsächlich aber ist die Schweiz eines der urbanisiertesten und globalisiertesten Länder der Welt.
Aber nicht nur unsere Selbst-Zuschreibungen gehen kreativ mit Tatsachen um. Nein, sogar die Beleidigungen an unsere Adresse sind postfaktisch. Nehmen wir nur das berühmtestes Filmzitat über die Schweiz.
Orson Welles sagte im „Dritten Mann”: „In Italien hatten sie in den 30 Jahren unter den Borgias nur Krieg, Terror, Mord und Blut. Aber dafür gab es Michelangelo, Leonardo da Vinci und die Renaissance. In der Schweiz herrschte brüderliche Liebe, 500 Jahre Demokratie und Frieden. Und das Resultat? Die Kuckucksuhr!”
Wir Schweizer haben Jahrzehnte lang darauf hingewiesen, dass die Kuckucksuhr eine deutsche Erfindung ist – und keine schweizerische. Vergeblich. Irgendwann haben wir es aufgegeben. Letzte Woche hat die Schweizer Regierung deshalb entschieden, die Kuckucksuhr offiziell zum
schweizerischen Kulturerbe zu erklären. Nein, das war jetzt eine fake news. Und zwar eine echte!
Das Postfaktische ist natürlich ein herber Schlag für Comedians, Kabarettisten und Satirikerinnen. Sie werden von den Verhältnissen ausgehebelt – statt ihrerseits die Verhältnisse auszuhebeln.
Wie soll das politische Kabarett, wie soll die Satire auf diese verzwickte Situation reagieren? Gewiss, man kann darauf hinweisen, dass Nostalgie keine Politik ist. Dass das Unbehagen zur Moderne gehört. Und dass eine Politik der grossen Wut nur noch zu mehr Wut führt – und zwar auf allen Seiten.
All das stimmt. Aber all das verpufft, solange die Realität nur noch ein Gerücht ist. Die Anklage im Geist der Aufklärung funktioniert nicht mehr so richtig auf schwankendem Boden. Ohne Konsens über die Tatsachen ist auch kein Entlarven mehr möglich.
Könnte man meinen. Tatsächlich aber ist es genau umgekehrt: Das machen die Gewinner des diesjährigen Salzburger Stiers klar. Gerade jetzt entfaltet sich das subversive Potenzial der Satire nämlich erst richtig!
Das gilt für den deutschen Preisträger, Helmut Schleich. Er ist ein Virtuose der Parodie, aber gleichzeitig mehr als das: Er seziert die Halbwahrheiten und Vorurteile, die sich so gern in politischen Diskussionen einnisten, wenn man nicht aufpasst.
Von subversiver Subtilität zeugt auch das Werk der Preisträger aus Österreich, Hosea Ratschiller. Sein Programm heisst: „Die allerletzten Tage der Menschheit”, eine Karl-Kraus-Adaptation.
Und es war ja Karl Kraus, der die sehr aktuell anmutenden Zeilen schrieb: „Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.”
Das Postfaktische ist eben manchmal harmloser als das Faktische. Das hat auch die Schweizer Gewinnerin, Hazel Brugger, sehr schön gezeigt: Sie fragte kürzlich an einem Parteitag vor laufender Kamera die Delegierten, welches denn die grössten Erfolge der vergangenen Jahre seien? Deren Antwort? Verlegenes Lächeln und sichtbare Ratslosigkeit.
Was Hazel Brugger macht, ist intellektuelles Judo. Maximale Wirkung bei minimalem Aufwand. Was Hazel Brugger hier nicht macht, ist ebenso interessant: Keine elaborierte Parodie, kein beissendes „J’accuse”, kein aufklärerischer Furor, kein Wille zum satirischen Niedermachen.
Nur eine schlichte, lakonische Frage. Sie macht weniger – und deshalb mehr!
Eine sanfte Einladung zur Selbst-Blossstellung.
Vielleicht ist das Postfaktische ja sogar eine Chance? Denn es bedeutet auch, dass die Dinge nicht einfach sind, wie sie sind.
In der Schweiz ist bekanntlich alles Verhandlungssache. Und nichts ist je ganz abgeschlossen. Nehmen wir die Alpen, die unsere drei Länder ja verbinden: Für uns Schweizer sind die Alpen einfach ein weiteres Thema, über das man im Rahmen der direkten Demokratie durchaus diskutieren kann.
Braucht es im Zeitalter der Digitalisierung diese statischen Alpen überhaupt noch, die einfach so herumstehen? Das ist eine völlig legitime Frage, über die man aus guten Gründen geteilter Meinung sein kann.
Eine radikale Position vertritt in dieser Hinsicht eine kürzlich gegründete Aktionsgruppe: Sie propagiert, die Alpen ersatzlos zu streichen. Der Bundesrat neigt zu einer sanfteren Variante: Einer Auswalzung der Alpen nach Süden. Die Schweiz hätte dann endlich einen Meereszugang.
Die Alpen-Lobbyisten sehen das natürlich völlig anders. Schon heute würden die Alpen jährlich um 2 Zentimeter erodieren; falls nichts geschehe, gebe es in bereits 50 Millionen Jahren keine Alpen mehr.
Sie sehen: Die Schweizer Debattenkultur funktioniert auch in alpinen Höhen. Wie es diese Satire des Schweizer Soziologen Francois Höpflinger beschreibt.
Und das Wunderbare ist: Man kann – nach heftiger Debatten – auch zum Schluss kommen: Die Alpen sind eigentlich gar nicht so schlecht. Wir lassen sie stehen! Vielleicht gelingt uns das ja auch eines Tages wieder mit den Fakten.
Quelle: https://www.edi.admin.ch/edi/de/home/dokumentation/reden.msg-id-66605.html